Montalcino (Toskana)

Die Fahne der Aufrechten

  

… Ist es Zufall, das Fehlen der Kugeln 
im Wappen? Nur der Zahn der Zeit? 
Das Widerstreben der Stadt?

 

SCHON MANCHEM HAT SIE WIDERSTANDEN. Hauptstadt der Sienesen war sie, vier Jahre, von Heimatvertriebenen im Exil, ihre letzte Zuflucht vor den kaiserlichen Soldaten, in deren Hand das stolze Siena gefallen war. Ein Jahr lang versuchte sie das Belagerungsheer Karls V. zu zwingen – ihre Mauern hielten stand, sie selbst blieb standhaft.

Heute sind ihre Mauern durchlässig geworden. Die einzigen, die noch Wacht halten, sind Steineichen, Zypressen und Feigen. Die einzigen, die den Fremden noch aufhalten, sind Granatäpfel, blühend, in ihrer Schönheit. Doch die sind blind für Fallen geworden, die nur Feinsinnige locken. In Horden sind sie eingefallen in Sienas letzte Feste, und sie nehmen sie täglich im Handstreich neu – bis die Herbstregen endlich eine kurze, über die Wintermonate währende Erleichterung verheißen.

 

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DIE FAHNE DER AUFRECHTEN – heute noch zeugt sie von ihrer Widerstandskraft. Hier wird die Standarte der Republik Siena aufbewahrt, nicht in der Stadt, der sie so lange die Treue hielten. Doch der Ansturm der neuen Fremden zeigt Wirkung. “Zimmer”, “Verköstigung”, “Man spricht deutsch” – sie sind nicht mehr aufzuhalten, sie haben die Stadt mit ihren Fahrzeugen, Kameras und Geldbörsen unter Dauerbeschuß genommen, sind eingedrungen und haben ihre Spur der Verzückung gezogen. Von den Parkplätzen über die Geschäftsstraße bis auf die Piazza. Eingedrungen sind sie, hier lagern sie, hier bestimmen sie das Geschehen, das Tempo der Stadt.

Tun sie es wirklich? Montalcino ist wehrhaft, Montalcino ist listig, ist nicht zu fassen. Die Stadt hat aus ihrer Geschichte gelernt, aus Kämpfen, Belagerungen und Enttäuschungen. Über ihren Kopf hinweg – Philipp von Spanien hatte Schulden bei den Mediceern, mit Siena und dessen Territorium beglich er die Schuld –, über ihren Kopf hinweg wurden sie an den Erzfeind ausgeliefert. Siegreich in der Belagerung, verraten im Frieden. Und so wurde Montalcino, die Aufrechte, Mediceerbesitz, und so prangt heut das Wappen der Medici an ihrem Turm, dem höchsten, weithin sichtbar, ein Zeichen der Schmach.

Doch Montalcino hat aus der Geschichte gelernt … Ist es Zufall, daß von den sechs Kugeln des Mediceerwappens nur mehr eine einzige ihren Zwingspruch ausübt? Haben sich die aus Montalcino gewehrt? War es das unerklärliche Widerstreben des Turms, der sich gegen das eingemeißelte Schandmal sträubte? Oder einfach nur der Zahn der Zeit?

Geheime Resistenza, verbündet mit dem Walten der Zeit. Montalcino, hoch über den kahlen Crete der toskanischen Hügel, hoch auch über den waldreichen, fruchtbaren Fluren im Süden und Westen, zum Monte Amiata hin, Montalcino, Bergstadt an der Scheide zwischen Bepflanztem und Nacktem – Montalcinos Wurzeln der wahren Wehrhaftigkeit liegen tief, unergründlich, im Walten des Widersprüchlichen. Das wahre Banner der Aufrechten prangt am Palazzo Comunale, im still erlöschenden Wappen der Medici …

 

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SIE HABEN IHREN SPASS DARAN, die Ragazzi. Ein Schwung, und ganz sanft berührt er die Traverse, tippt nur zart an, denn die Schwerkraft siegt, und wieder fällt er, der Ball – Und sie laufen, sie fangen ihn, ein neuer Versuch, ob der Ball nicht oben, zwischen den Arkadenkapitellen, an den mit Nägeln besetzten Traversen hängenbleibt, aufgespießt … Müde des Ballspiels, entzündet sich am Schutz gegen Tauben der Spielball einer subversiven Kreativität, die wunderbar zur eigenwilligen Stadt paßt. Alles, wirklich alles wird hier erst geprüft, wird tief innen befragt, ob es den eigenen Bedürfnissen entspricht und, wenn nötig, nach den eigenen Vorstellungen umgeformt.

Denn betrachte sie genauer, die offene Loggia an der Piazza del Popolo: gotische Spitzbögen über den ersten beiden Arkaden links. Sieneser Gotik, zweifellos, doch aller Geschichte zum Trotz: Montalcino ist nicht Siena, ist nur eines, sie selbst. Und die Arroganz der Gotik ist nicht Sache der wackeren Stadt, die Sant’Antimo – feinfühligste, maßvollste Romanik – einst als freie Kommune entließ. Doch Montalcino wehrt sich. Nicht im Widerspruch, in der Antithese – Streitrhetorik steht diesen Cittadini nicht –, sondern im raffinierten Unterlaufen des überheblichen Gegners. Und so wuchsen sie weiter, nicht zwei, sondern sechs Arkaden grüßen heute – und vier in reinster, eleganter Renaissance. Gleiche Höhe die Sockel, durchlaufend das Gesims – wem fällt hier noch auf, daß die beiden linken Arkaden kein Rundbogen schmückt …?

 

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WIDERSPRÜCHE, GEGNERISCHES, FEINDLICHES – in sich aufgelöst und entkräftet: das Geheimnis Montalcinos, der Aufrechten, der Stadt mit Charakter. Schmal, gestreckt schon am Anfang, so der Turm des Palazzo Comunale. Auch hier waltet die Kunst, Widerstrebendes zusammenzufügen, um daraus Eigentümliches, Unverwechselbares zu gestalten. Und so fügt sich der zweite, offene Turmaufbau aus Backsteinen harmonisch auf den alten, steinernen, trutzigen Turm, als hätten sie immer schon zusammengehört. Verschiedene Sprachen sprechen sie wohl: die Arkaden, der Turm, ja, das Zwingwappen am Trutzgestein – doch sie sprechen, gemeinsam, von einem nur: Noi siamo la città!

Doch wo bleiben die letzten, die die Mauern bestürmten? Die Fremden, Franzosen, Schweizer und Deutsche, die Wiener, St. Pöltner? Sieh dich jetzt um: Noch vor einer Stunde regierten sie, dort die Schwaben, hier Amerikaner. Erfolgreich belagert, Besatzung, Besitz – doch sie räumten den Platz. Keine fremden Zungen, keine störenden Eindringlinge. Die Piazza spricht wieder Italienisch.

 

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MONTALCINO IST WEHRHAFT, Montalcino ist listig. Jetzt gehört die Stadt wieder ihnen, den Cittadini, die die Stühle der Fremden im Caffè Fiaschetteria eingenommen haben, den Giovani, die sich gegenüber, auf den Arkadenstufen niedergelassen haben, den Ragazzi, die, der Fußbälle leid, hinter den Arkadenpfeilern Verstecken und Täuschen spielen.

Und vor allem: Sie reden. Sie reden miteinander, in Gruppen, im Kreis, kein Kräftemessen, keine Stammtischatmosphäre. Zwei, drei, vier Gespräche werden gleichzeitig geführt an einem Tisch, kein dröhnender Bierhumor, kein “Jetzt red’ i”. Die Kluft wird in Zukunft noch tiefer werden: Während wir immer weniger miteinander sprechen, wird dort die Kunst der Konversation weitergegeben, von Mund zu Mund, von Generation zu Generation. 

Und so wächst im Betrachter, still und stetig, die Überzeugung, die unerhörte Maxime: Städte brauchen Menschen – sie können nur leben, wenn sie offen sind, wenn ihre Wände Ohren und Münder haben. Dieser Turm, diese Arkaden, selbst das “Caffè Fiaschetteria Italiana 1888” wären nie so alt geworden, würden heute nicht mehr bestehen, wenn sie nicht täglich Hautkontakt mit ihren Bewohnern hätten. Die Stadt braucht die Zuneigung der Menschen – untereinander, und auch zu ihr.

Letzte Gedanken, wenige Sekunden vor Mitternacht. Die Glocke schlägt –

 


© Günter Exel