Madeira

Die flüchtige Wahrheit des Augenblicks

An einer offenen Wegkehrung pfeilen sich
Schwalben mit atemberaubendem Tempo
wenige Zentimeter an meinem Kopf vorbei,
sodass ich das Sirren ihrer Flügel höre …

 

Von jetzt an Meer. Du hast die letzten Küstenstreifen des Kontinents hinter dir gelassen. Im Blau des Himmels und des Atlantiks lösen sich die Gedanken vom Alltag. Madeira wartet auf dich. Weit draußen im Ozean –

 

Mit der Ungeduld des Entdeckers wartest du nach einer Stunde Flug bereits auf die ersten Spuren von Land. Und plötzlich liegt Porto Santo unter dir. Überraschend scheint der charakteristische Gipfel über den niedrigen Wolken zu schweben. Lange goldene Sandstrände. Aber eine fast unbewachsene, trockene Insel. Kaum ein deutlicherer Kontrast ist denkbar zu dem, was dich erwartet.

 

Nur noch ein kurzer Flug – dann taucht es auf – das grüne Paradies mitten im Atlantik. Der Anflug ist und bleibt spektakulär, wenn auch nicht mehr mit einem Herzstillstand bedroht, seit der Flughafen erweitert wurde und die Landebahn auf gewaltigen Stelzen ins Meer hineinragt. Wenn die Maschine einschwenkt und knapp die Häuser an der Uferlinie auf Augenhöhe vorbeiziehen, dann kannst du dich dieser Faszination nicht entziehen …

 

Nicht umsonst bricht nach der Landung ein frenetischer Applaus aus – fern vom kindlichen Aufatmen an Bord eines Urlaubsfliegers: Meine Maschine kommt aus Lissabon, und Portugiesen sind die Passagiere –

 

– * –

 

Boulevard of broken dreams: Funchal

 

Uferpromenade von Funchal. Die Abendsonne färbt die Wolken pastellfarben. Schickt ihre Strahlen über den Hafen von Funchal. Erleuchtet die Ilhas Selvagens am Horizont mit rosa Spotlights. Doch nicht nur die Natur ist hier romantisch. Vor der Kulisse des Meeresrauschens haben sich die Liebenden Funchals auf der Ufermauer eingeschrieben.

 

Mit weißem Stift findest du ihre Liebesschwüre verewigt: „Fabiano, amo-te. Catarina“, „Adoro-te Pipo“, „Marina Love Paulo“, „AMT MT MT MT Candy 15/2/06“, „Claudia ama muito muito muito muito muito Maurilio – 29.9.2005.“ Ich beginne zu rechnen: Seit dem daneben notierten 13.1.05. sind 8 Monate und 16 Tage vergangen. Wie vom Buchhalter der Liebe aufgezeichnet. Hat die Liebe ein Ablaufdatum?

 

Einen Anfang und offensichtlich auch ein Ende fand die unglückselige Liebe von Zeza und Aurélio: 16.4.03 – 13.1.04. Drei Punkte dahinter deuten eine Geschichte an … Was war es, das sie verband? Das knapp neun Monate hielt? Eine Liebe, geboren, aber nicht lebensfähig?

 

Manchmal werden die Geschichten nicht nur beendet, sondern auch kommentiert. „13.12.04: Liz loves JP“ – Darunter: „11.10.05: It’s all gone“. Und noch einmal: „11.11.05: Game over. Made by Liz“ …

Welcome to the Boulevard of broken dreams. Wer weiß, ob seine Liebe für immer hält? Die Sprüche, die Daten geben, jedes für sich, eine andere Antwort …

 

Ein Mädchen steht einsam am Geländer und schaut hinab in die Wellen. Was es darin sehen mag? Die Gedanken mögen die gleichen aufwühlenden sein wie bisher, jene, durch die schon Generationen junger Menschen ins Weite geschickt worden sind. Das Meer hat an Urtümlichkeit verloren, die Küsten haben an Annehmlichkeiten gewonnen. Nur die Liebesschwüre, die auf den Steinen rund um Madeira verankert sind, die bleiben dieselben … Maria, amo-te.

 

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In den Schlaf gestreichelt

 

Die Nächte sind so mild, dass ich die Tür zum Balkon meines Hotelzimmers weit geöffnet habe, um zu schlafen. Unmittelbar vor mir das Meer, die Geräusche der Wellen. Gleichmäßig fluten die gesamte Nacht Träume durch mich hindurch. Es ist ein ruhiges, akzentuiertes Rauschen.

 

Einmal in der Nacht werde ich wach und trete noch einmal auf den Balkon hinaus. Blicke hinaus in den Süden, wo einzelne, dünn leuchtende Lichter der Fischerboote den Horizont markieren. Darüber in Küstennähe spiegeln Wolken das orange Licht des Amphitheaters von Funchal wieder. Alles ist ruhig. Orange-rosa zeichnen die Nachtwolken ihre Silhouetten in den blau-schwarzen Himmel, in dem sich die Sterne verlieren. Alles ist ruhig, nur der Cantus firmus des Meeres begleitet meine Gedanken.

 

Ich atme noch einmal tief die Meeresluft ein, drehe mich zur Seite und lasse mich von der milden Nachtluft in den Schlaf streicheln. 

 

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Im Angesicht des Meeres: Caniçal

 

Ein Hafencafé am Ende der Welt. Aufgebockte Boote. Vor mir der Blick aufs Meer, zum Strand, wo die Kinder des Ortes in den Wellen toben. Um die Wette kraulen. Die Touristen sitzen vor der Snack Bar, die alten Männer im Schatten der Spieltische.

Weit ausholend, mit Schwung, mit viel Geschrei und Leidenschaft werden Dominosteine auf das Holzbrett geknallt. Ein Dutzend Beobachter stehen im Kreis herum. Einer steigert sich hinein: So kurz das Spiel, so lang die Diskussionen. Voller Leidenschaft diskutiert der halbe Tisch mit. Bald wird heftig gestritten.

 

Über dem Bugwasser eines gerade auslaufenden Containerschiff kreisen die Möwen. Noch immer knallen die alten Männer die Dominosteine aufs Brett. Gelangweilt gähnt ein junges Mädchen am Nebentisch. Ein Junge singt Robbie Williams, „Feel“. Eine schwarz gekleidete Alte, hinter deren Kopftuch ich nur die spitze Nase sehe: Sie wirkt schon wie aus den Zeiten gefallen.

 

Der Wind bringt die grellbunten Fähnchen über der Caféterrasse zum Flattern, streicht über die heiße Haut. Nach strahlenden Tagen kommen sie endlich, die Wolken. Das bisher tiefblaue Wasser schimmert nun so blaugrau, wie ich es erwartet hatte, mit silbern aufgesetzten Lichtern.

 

Kein malerischer Ort mit den Tischen, gesponsert von Coral Cerveja, mit den Autos, die mich alle fünf Meter von hier anglotzen. Mit Containerschiffen, Hafenanlagen und einem ausgebrannten Bootsdeck. Und doch ein Ort, der Urlaubsstimmung verbreitet. Zeit haben, im Angesicht des Meeres.

 

Gerade kommt ein Fischer mit einem frisch gefangenen Thunfisch vorbei, hält ihn wie selbstverständlich am Schwanz. Niemand würdigt ihn eines Blickes Nur für mich ist es ein Ereignis.

 

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Regenschleier und sirrende Schwalben:
Passo de Portela

 

Kühl ist die Luft am Passo de Portela, wo ich entlang einer Levada durch die Lorbeer- und Eukalyptuswälder ziehe. Farne und Hortensien säumen den Weg. An einer offenen Wegkehrung pfeilen sich Schwalben mit atemberaubendem Tempo wenige Zentimeter an meinem Kopf vorbei, sodass ich das Sirren ihrer Flügel höre …

 

Nebelschwaden ziehen über die Berghänge und zaubern eine märchenhafte Stimmung in die Hügel. Immer wieder öffnen sich Ausblicke aufs Meer und auf die kleinen, rot gedeckten Häuser, die sich an die Hänge klammern. Wenn sich ein Windhauch regt, dann legt sich wie aus einer Laune des Augenblicks heraus ein Regenschleier über den Weg und Wassertropfen benetzen die Haut. Beim nächsten Luftzug verzaubert die Sonne bereits wieder das undurchdringliche Grün in einen Märchenwald und hängt über den abgestorbenen Ästen.

 

In den Nadeln der Zeder glänzen silbrige Wassertropfen. Ein knallgrüner Moosteppich überzieht die Wände, aus denen Farnpflanzen sprießen. Ein ständiger Begleiter ist das Rauschen der Eukalyptusbäume und das Sirren der Schwalben.

Unversehens öffnet sich ein faszinierender Blick auf den Adlerfelsen. Unerschöpflich das Spiel von Licht und Wolken auf der Landschaft. Madeira – oder die flüchtige Wahrheit des Augenblicks.

Ich kehre zurück, pflücke Heidelbeeren von echten Bäumen, nehme Madeira mit dem Gaumen, mit der Nase, mit der Haut wahr. Eukalyptus, der immer wieder in Wellen sich in die Nase drängt. Und der Wind, der die Haut mit frischer, kühler Luft und mit Wassertropfen benetzt.

 

© Günter Exel, 2006