Orvieto (Umbrien)

Riss ins Jenseits

  

… Rühr mich nicht an, 
herrscht der Dom seine Stadt an, 
bleib mir vom Leib! 
Und die goldene Front drängt, 
strebt, singt, weht nach oben …

 

AUF DEN STRASSEN DRÄNGEN sie sich, fluten und wogen, Orvieto kennt sich, begegnet sich freudig, ciao, come stai! Zwischen Corso und Piazza del Duomo, da spielt Orvieto das Große Spiel der Fraternità, jeden Abend aufs Neue, denn Orvieto ist jung. Orvieto lebt, und doch ist alles anders, das Promenieren, Präsentieren, Poussieren am gewaltigen Felsen der umbrischen Stadt –

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WARUM? DAS FRAG NICHT die Orvietani – sie sind nicht besser oder schlechter als anderswo. Auf dem großen, zerbrechlichen Rücken aus Tuffstein haben sie sich gefunden, aneinandergedrängt, um den Winterwinden zu widerstehen, um sich bei flirrender Sommerhitze aneinander zu reiben, kühlende Schulter an kühlender Stirn.

Warum, das mußt du die Steine fragen, die Steine der Stadt. Nicht die große, gedrängte Herde der Häuser, gesichts- und willenlos in dieser Schar. Fragen mußt du den Dom, dieses weiße Gebirge auf dunklem Tuffstein, mit Marmorbändern, bis weit hinauf in den nächtlichen Himmel. Fragen mußt du ihn, ihm Respekt und Ehrfurcht bezeigen, reinen Herzens, denn er ist nicht von dieser Welt.

Ihm zu Ehren ducken sich seine steinernen Vasallen, ständig Formeln der Erfurcht murmelnd, gegen das grobe Pflaster, ihm zu Ehren wagen sie schon seit Jahrzehnten, Jahrhunderten, nicht mehr die Augen zu heben, geschweige denn, Aug in Aug, seiner goldnen Fassade ins Antlitz zu blicken. Auch seinen Nachbarn vis-à-vis verweigert der steinerne Riese das Gespräch: Unverwandt blickt die Fassade des Doms über ihre Gesimse hinweg, gen Himmel sehen seine drei Portale, keine Spur von Erdenschwere, von heiliger Ermattung.

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UNBERÜHRBAR BLEIBT DER DOM, der nur von den ersten und letzten Dingen spricht, vom Sündenfall und von der Auferstehung des Fleisches, unberührbar bleibt er, selbst am Boden verankert. Denn er wächst nicht aus demselbem Boden, aus dem sein steinernes Fußvolk Kraft und Kühle zieht. Schon das Pflaster ist – Terror des Trennenden! – ein Diener seiner Fremdheit, in Felder geteilt, von denen das ihm nächste, so scheint’s, schon dem Numinosen geweiht ist: Nicht gelegt, nein, gewachsen auf göttlichen Wink, zu Sternen, Quadraten, so zieht sich der Schmuck kristallin um den Dom, hier eine Linie, dort ein Winkel, jeder Zug des Ornaments ein wundersamer Teil des Bauplans vom Himmlischen Jerusalem …

Und, dem nicht genug, treibt den Sockel die forsche Dialektik des Unten und Oben aus der gewaltigen, ebenen Fläche heraus, jetzt heben sich, zierliches Zeremoniell im Gleichklang der Maße, die Stufen zum breiten Podest empor, jetzt legen sich – Streifen um Streifen, ein Triumph der Vertikale – die marmornen Mauern des Domes darüber, treten vor im sanften Rhythmus, weichen ehrfürchtig zurück, im Gleichklang hoch hinauf, bis tief in die Nacht. Und über allem, vor allem drängt, strebt, singt und weht die glänzende, kämpfende Front nach oben, eine steinerne Mystik der Entrückung im Schweben, eine goldene Schautafel demütigen Glaubens, kein Pfeiler, kein Wimperg, der unmäßig Raum beansprucht für sich, größte optische Verschwendung, und doch fast ängstlich die Scheu vor dem freien Raum – keine Fassade zum Anfassen, Näherkommen …

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RÜHR MICH NICHT AN, herrscht der Dom seine Stadt an, bleib mir vom Leib, auch ich tue das meine – scheint nicht im Norden der Platz überhöht, aufgeschüttet gegen die Schar der gedrängten Häuser? Der Dom hält Orvieto im Zaum, gibt vor, es nicht zu kennen, keine Botschaft, kein Austausch zwischen ihm und dem Hofstaat.

Orvieto – auf der Klinge des Messerrückens gibt es eine Richtung nur und nur ein Ziel: die Vertikale. Orvieto – dem unschuldigen Berg schlägt der Dom, bedingungslos jenseitig, eine heilige Wunde, wie die Erbsünde klaffend. Ein leeres Zentrum, ein Gipfel, der sich der Parabel gleich im Unmeßbaren verliert …

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DOCH STÄDTE LEBEN, bewegen sich, drängen nach Ausgleich – intakte Städte. Kann eine Stadt von solch einem klaffenden Riß ins Jenseits unberührt bleiben? Oder besser – denn Zeit zählt im Organismus einer Stadt nur bedingt: Hat nicht eine Stadt, von so besessener Sehnsucht nach Unberührbarkeit und moralischer Autorität zum Bau dieser Himmelsschleuse getrieben, ganz tief unten ein rasendes, wühlendes, rastloses Innenleben?

 

© Günter Exel