Norcia (Umbrien)

Die Kraftlinien der Piazza

  

… Worte fallen, setzen sich in den Ritzen fest, 

Sprachspäne, kostbar, die Patina der Plätze …

 

DIE PIAZZA LEBT, BEBT, RUMORT. Bambini, Ragazzi, Ragazze treiben sich vor San Benedetto herum. 11 Uhr? Wo liegt das Problem? In Norcia gehört der Abend der Jugend. Den balesternden Ragazzi, die den Fußball zum vierundzwanzigsten Mal gegen die “Salumi Formaggi Lanzi” knallen. Dem Junior, der soeben im Hechtsprung auf dem Pflaster gelandet ist und – der Trost kommt sofort – vom Babbo hoch über den Kopf geschupft wird. Der Abend gehört den halbwüchsigen, aber unübersehbar gut gebauten Ragazze, die sich an den Blicken der Ragazzi weiden, sich unter ihnen winden. Und der Dutzendschaft jugendlicher Beobachter, die sich zu San Benedettos Füßen in der Mitte des Platzes zum Augenschmaus versammelt haben – gemeinschaftlich gebissen, verzehrt oder zurückgewiesen.

 

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SIE LERNEN ES BEREITS, DIE JUNGEN, zögernd, noch ungeübt, übernehmen sie die Choreographie der Väter. Tagtäglich zeigen diese ihnen vor, wie das abendliche Ballett der Verbundenheit in Perfektion abläuft. Noch fehlen die Feinheiten, noch stimmt es nicht ganz bei Distanzen, bei Schritten, beim Wechsel zwischen Groß- und Kleingruppen, noch ist die Ordnung brüchig, gegeben vom Schutzpatron der Piazzen (Merkur, Gott der Händler und Diebe? Trivia, Göttin der Wegkreuzungen?) –, doch in die Hohe Kunst sind sie bereits eingeweiht: im Stehen die Welt zu bewegen, mit Worten viel und mit Gesten alles zu sagen. Sie wird nachgeahmt, wird durchprobiert, wird variiert – und doch findet sich alles, jeder Blick, jedes Wort, in jener ungeschriebenen Grammatik des geglückten Abends wieder.

 

Denn Gesetze hat die Piazza, ungeschriebene zwar, doch dafür umso unverbrüchlichere. In jeder Stadt, auf jedem Platz liegen sie in ihrer eigenen Fassung vor, jeder Palazzo, jeder Duomo trägt bei zum Geflecht: geheime Maximen des Kommens und Gehens, des Aufeinander-Zugehens und Scheidens. Auf den Portalstufen des Doms findet man leichter zueinander, auf der Freitreppe des Palazzo Comunale werden die Gespräche ernster – das wissen sie, und keiner zerbricht sich den Kopf, warum es so sei. Und doch werden diese Geschichten Tag für Tag neu geschrieben, verwelken im Vergessen, setzen sich in den Ritzen der Pflastersteine fest, bilden die Patina der Plätze – unmerklich, du kannst sie zwar nicht sehen, aber du spürst sie sehr wohl.

 

Wenn zwei oder drei im Namen dieser unendlichen Geschichten zusammenkommen, wenn Worte fallen und Reden gehen, dann setzen sich Sprachspäne fest, kostbar, bedecken den Platz … Getränkt ist dieser, mit Sprache getränkt, mit Regeln des Zusammenlebens, die hier, in Norcia, schon dem Abendland eine neue Richtung wiesen. Kaum zwanzig Meter entfernt ruhen, im Untergrund, die Späne der Sprache, unvergänglich, an denen Benedikt von Nursia – sein Elternhaus war’s – den Magnet zur Neuordnung des Abendlandes ansetzte. Lies die Regel des Heiligen Benedikt, du wirst sie finden: die Kraftlinien der Piazza von Norcia.

 

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BENEDIKTUS UND VIGNOLA. Schlaftrunkene, steinerne Löwen und rastlose Schwalben, im Blau des Vormittags von der Fütterung des Nachwuchses in Anspruch genommen. Dazu der Duft von Wildschweinschinken, luftgetrocknet, noch mit der Zierde des borstigen Fells, mit Eichenlaub als Gruß aus den Wäldern arrangiert. Grüße und Gesten: Norcia hat mich wieder. Oder eher – ich habe Norcia wiedergefunden. Die Stadt, wo sich Benedikts weisende und doch strenge Hand in den Himmel hin öffnet. Wo seit Jahren derselbe Händler an den Stufen der Kathedrale Fior di Zucchini und Fagiolini mit seinem Handkarren verkauft. Wo man in einer einfachen Bäckerei am Corso ein Säckchen Amaretti bezahlt und, ein Geschenk, das bezauberndste Lächeln ganz Umbriens mit auf den Weg bekommt …

 

Norcia, wo die Hand der Schwester den Bambino leitet, der seine ersten tapsigen Schritte über die Piazza wagt. Eine Taubenfeder treibt über die Fläche, aufrecht, um die eigene Achse wirtelnd, vom Wind geführt, doch vom eigenen Leben erfaßt. Bimbo bekommt von der Sorella einen großen, übergroßen Hut aufgesetzt, sie lächelt mir zu, sie ist jung und sich ihrer täglich wachsenden Schönheit bewußt. Einen Kinderwagen schiebt die Nonna, auf der anderen Seite des Platzes, “Senso unico”, unter dem Zeichen hindurch, weiter in den Corso Sertorio. Großmutter, Mutter, Schwester und Bruder: Erinnerungen wecken sie an ein heiliges Motiv, Anna Selbdritt – Johannes die Schwester, mit dem Kind am Gängelband gehend. Sie überlagern sich an dieser Piazza, die Geschichten, angeweht von Jahrhunderten, als Späne der Legenden …

 

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WO SIND UNSERE KINDER? Kaum sind sie zu sehen. Unsere Mütter, wo sind sie? Norcia dagegen ist voll von Kindern, an der Hand ihrer Mütter geführt, dann vom Wind über die Piazza getrieben, frei auf der großen, weiten, leicht gewölbten Fläche, die für sie eine Zeit noch den Erdkreis bedeutet. Piano grande – großer Plan, wage ich zu übersetzen: Denn hier unter der weisenden Hand Benediktus’ zeichnet er sich wieder ab, der alte, weise Plan. Der Entwurf hinter unserem Drängen und Streben, unserem Schaffen und Sorgen, unserem Zusammenbleiben – 


© Günter Exel